Die Lehren des alten Römers – Kolumne: „It‘s the content, stupid!“

Man weiß nicht, wann genau er gestorben ist, man verbindet kaum ein Bauwerk mit ihm. Dabei war Marcus Vitruvius Pollio der Urvater der Architektur. Und eigentlich auch des Content Marketings. Zumindest glaube ich das. Und ich hatte, bis ich Vitruv entdeckt hatte, keine Ahnung von Architektur. Jetzt aber kann ich sagen: Die Prinzipien des Vitruv machen auch das Content Marketing besser. 


Aus dem dpr magazin 12/ 2022 – Hier geht es zur kompletten Ausgabe


Meine Kenntnis der Architektur passt eigentlich in einen simplen Rahmen. Mir nicht wohlgesinnte Menschen würden diese Kenntnis als unnuanciert bezeichnen. Zwar kann ich beim Anblick eines Gebäudes eine ungefähre Einordnung in die jeweilige Epoche vornehmen, ansonsten aber bedeckt das Wortkleid meines Wissens nur recht ungenügend die schamhaften Stellen meiner Banausenhaftigkeit. Schön. Hässlich. Alt. Neu. In diesem sprachlichen Raster bewegt sich meine Urteilskraft und würde man mir auf Städtereisen lauschen, man hielte es nicht für möglich, dass ich beruflich irgendwas mit Sprache zu tun haben könnte. Sokrates war immerhin schon so weit, zu wissen, dass er nichts weiß; bei mir fängt es leider im Themenbereich Architektur schon damit an, dass ich nicht einmal wüsste, was ich alles nicht weiß. 

Vitruvs Wissen

Mit dieser beinahe vorsokratischen Erkenntnis bin ich kürzlich über einen alten Römer gestolpert. Nein, nicht im tatsächlichen Sinne. Auf meinen Irrwegen durch das Web bin ich auf Marcus Vitruvius Pollio gestoßen. Vitruv nicht zu kennen, ist nicht weiter schlimm, wiewohl doch eigenartig. Denn Vitruv, er lebte im 1. Jahrhundert vor Christus, hat eigentlich die Grundpfeiler der Architektur erdacht, er hat Leonardo da Vinci inspiriert und viele andere große Architekt:innen in den Jahrhunderten, seit Vitruv das Zeitliche segnete. Wann genau das war, weiß man übrigens nicht so recht, was ein starkes Indiz für die Unwichtigkeit des armen Marcus Vitruvius Pollio schon zu Lebzeiten sein dürfte.

Das Spannende an unserem leider irgendwann verblichenen Freund Vitruv ist, dass er mit seiner Architekturtheorie tatsächlich vorweggenommen hatte, wie rund 2.000 Jahre später auch die Architektur von Content-Strategien funktionieren kann. Denn Vitruv hat in seinem System eigentlich alles gesagt, was dann Menschen wie ich noch viel wortgewaltiger und in ausgiebigen Workshops und Präsentationen zu formulieren versuchen. Vitruv nämlich hat drei Hauptforderungen an die Architektur – und die habe ich auch an ein gedankliches Gebäude, das die Content-Strategie eines Unternehmens abbildet: Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit oder wie wir sagen: Nutzwert) und Venustas (Schönheit). 

Die Basilika des alten Römers

Was bedeuten denn nun diese drei zentralen Forderungen unseres römischen Vorbildes? Während Vitruv mit Firmitas natürlich die Resilienz eines Gebäudes gegenüber Sturm und Nässe und Kälte und wohl auch den Menschen meinte, heißt Festigkeit im Content Marketing: die thematische Architektur eines Content Hubs so zu denken, dass er strukturell gerüstet ist für eine inhaltliche Erweiterung oder auch erst künftig eingesetzte Content-Formate. Wir erleben es immer wieder bei unseren Projekten, dass das Gefäß des Content Hubs irgendwann nicht mehr zum Inhalt passt, dass bestimmte Storys allein deshalb nicht erscheinen können, weil sie keinen Platz im System finden, weil das jeweilige Content-Format nicht vorgedacht wurde, weil durch dieses eine Stück das gesamte System, die Navigation, die thematischen Verknüpfungen instabil würden. Sie wissen nicht, was ich meine? Vielleicht erfahren Sie es, wenn Sie mal in Florenz weilen und die Basilika Santa Maria Novella besuchen – eine Kirche beruhend auf dem architektonischen Konzept unseres alten Römers. Ursprünglich als gotisches Bauwerk errichtet, wurde sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu erdacht, sie trägt nun eine Renaissance-Fassade und wurde wiederum Jahrhunderte später abermals umgebaut. Aber sie bleibt doch, jedenfalls innen, eine gotische Kirche, die all die Eingriffe überdauert hat und ihre Funktion als Heimstatt von relativ wundersamem Content auch weiterhin erfüllt.

Wasser für das Publikum

Auch von Nützlichkeit hatte Vitruv eine Menge Ahnung, denn er war nicht nur Theoretiker, sondern offenbar auch ein begnadeter Ingenieur, der einen Teil des Wassernetzes in Rom erbaute und die Hauptstadt des Weltreiches über ein komplexes System an Leitungen und Kanälen und Aquädukten mit Wasser versorgte. Für Menschen, die nach Erleuchtung, nach Erkenntnis, nach Wissen dürsten, sollte Content die gleiche Linderung verschaffen wie es Wasserleitungen tun: komfortabel und ohne Umstände und in der richtigen Menge an das begehrte Gut zu gelangen und dabei auch nicht überflutet zu werden – beim Content mit Unnötigem, mit Unpassendem, mit Wissen, das nicht zum aktuellen Bedürfnis passt.

Formidabel

Und dann wäre da noch die Schönheit. Ihr Sinnbild ist der berühmte Vitruvianische Mensch, gezeichnet von Leonardo da Vinci, ein „wohlgeformter Mensch“. Betrachtet man die Zeichnung von da Vinci, basierend auf der Theorie des Römers Vitruv, so sind es die bestechend perfekten Proportionen zwischen Körper und Extremitäten, ein Zirkelkreis vom Nabel ausgehend, feingliedrig und lebendig. Genau so kann eine Content-Strategie gedacht werden: symmetrisch, wohl proportioniert, mit einem klar erkennbaren thematischen Zentrum, von dem die Extremitäten, in unserem Fall andere Perspektiven auf das Thema, dargebracht in gut konturierten und voneinander sofort unterscheidbaren Formaten. Wenn das Zentrum verlorengeht oder sich verschiebt oder es gar kein Zentrum gibt, wie würde dann unser Vitruvianischer Mensch wohl aussehen? 

Wenn in zehn oder 20 Generationen also Menschen unsere dann schon zu Trümmern zerfallenen Büros vorsichtig freilegen, werden sie vielleicht im Staub drei Bilder darin finden: eines von der Basilika Santa Maria Novella, eines von römischen Aquädukten und eines vom Vitruvianischen Menschen. Und sie werden sich dann vielleicht fragen, ob hier Architekt:innen gewirkt haben oder Content Marketing-Profis. Der Unterschied ist nicht einmal so groß.

Martin Schwarz ist geschäftsführender Gesellschafter der auf B2B Content Marketing spezialisierten Agentur AustriaContent. Mehr von Martin Schwarz gibt es in seinem monatlichen Newsletter „Content Camp“, der hier kostenlos zu abonnieren istMartin Schwarz auf Linkedin.

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