KI – es geht nicht primär um Jobs

Daniel Lenz über „Blade Runner“, „Her“ und ChatGPT4.o – Vorwort aus dem dpr magazin 6/2024.

Dekadent und düster, schmutzig und übervölkert, so sah die Welt in „Blade Runner“ aus, einer Dystopie, die Ridley Scott 1982 für das Jahr 2019 filmisch entwarf, auf Basis eines Romans von Philip K. Dick. Schmutzig ist es heute vielerorts auf der Welt, und doch ist der darin geschilderte Kampf der „Replikanten“ gegen die Menschen bisher ausgeblieben – zumindest, wenn man das Thema Cyberkrieg außen vorlässt.  

Auf den ersten Blick weniger düster fiel dagegen „Her“ aus, das Science-Fiction-Filmdrama von Spike Jonze aus dem Jahr 2013 mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle. Ein Film, der gerade erstaunlich aktuell ist – und anders als „Blade Runner“ extrem nah dran am Hier und Jetzt. Darin lernt der Protagonist Theodore ein „Betriebssystem“ (heute würde man sagen: eine KI) kennen, in das sich der Held – dieser weibliche Replikant ist schließlich eher charmant als saugefährlich und rund um die Uhr ansprechbar – schnell verliebt und das für ihn sogar zum Partner-Ersatz wird.  

An „Samantha“, wie die KI im Film heißt, musste ich sofort denken, als OpenAI kürzlich die neue ChatGPT-Version 4.o vorstellte. Ich hatte nur wenige Tage zuvor „Her“ erneut gesehen, natürlich fiel mir die Stimme auf, die OpenAI in der Demo vorführte – extremst nah dran an Samantha in „Her“, gesprochen von Scarlett Johansson (worüber der Schauspiel-Star not amused war). Beeindruckend, keine Frage, wenn die KI auf einmal spricht, scherzt und singt. Wenn die Interaktion mit der Maschine fast schon natürlich wirkt – oder zumindest nicht mehr viel bis dahin fehlt. Und doch hinterlässt dies ein mulmiges Gefühl, selbst bei einem grundsätzlichen Tech-Neugierigen. Vielleicht auch, weil das Ende von „Her“ (ich spoilere nicht weiter) kein frohes ist. 


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Kurz vor dem Launch von ChatGPT 4.o hatte ich nicht nur „Her“ gesehen, sondern auch die OMR-Keynote von Scott Galloway verfolgt (hier das Best-of). Der Professor an der NYU Stern School of Business stellte erneut seine „Predictions“ aus dem digitalen Kosmos vor. Mit viel Verve, auch Humor ging es den bevorstehenden Angriff von TikTok auf Netflix und Spotify, den Siegeszug von Indien, WhatsApp als neuen Wachstumsmotor von Meta – bevor es am Ende nochmal überraschend ernst wurde.  

Am Beispiel von girlfriend.ai thematisierte Galloway die große Nachfrage schon heute nach virtuellen Partnerinnen, speziell nach elektrischen Frauen. Das Google-Suchvolumen für girlfriend.ai sei explodiert, tausende Firmen hätten auf Facebook Ads für „ai girlfriend“ geschaltet … „Samantha“ ist also bereits ohne ChatGPT 4.o Realität. Dies sei ein „Desaster“ besonders für junge Männer, weil die AI-Girlfriends nicht mehr als ein Faksimile des Lebens seien.  

Die größte Epidemie heute, so Galloways Finale, sei nach der Fettleibigkeit die Einsamkeit. Doch während die Fettleibigkeit durch die neuen GLP-1-Abnehm-Medikamente jetzt gerade radikal reduziert werde, seien die Samanthas der Welt Einsamkeitsverstärker. Galloways Ratschlag an die jungen Menschen: Geht vor die Türe, macht Unsinn, trinkt ein Glas zu viel – und genießt das Leben abseits des Screens. Nur dort warte das Glück. Uns (mitunter älteren) digitalen Medienmacher:innen bleibt vielleicht nur, bei aller Neugierde und Faszination für neue technologische Möglichkeiten wachsam zu sein. Denn am Ende steht vielleicht mehr auf dem Spiel als arbeitslose Hörbuchsprecher:innen und wegrationalisierte SEO-Texter:innen. 

Wünsche bei allem Editorial-Moll eine inspirierende Lektüre

Daniel Lenz

Co-GF DIGITAL PUBLISHING REPORT 

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